Bericht
Die Auswirkungen von COVID-19 auf die wirtschaftliche und soziale Situation von Frauen in Berlin

Posted by on Jun 8, 2022 in Allgemein

Wie wirkt sich COVID-19 auf das Leben der Berlinerinnen aus? Gut zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist es Zeit zu reflektieren, welche langfristigen Folgen die pandemische Notsituation auf die wirtschaftliche und soziale Lage insbesondere von Frauen hatte und hat. Denn wie die im November 2021 veröffentlichte Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) zeigt, wurden gerade Frauen durch die strukturelle Benachteiligung und die Mehrfachbelastung von Erwerbstätigkeit, Home-Schooling und Care-Verantwortung herausgefordert.

16.Mai 2022 | 18-20:00 | Online-Webinar

 

Der Landesfrauenrat und das Landesbüro Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung luden die Wissenschaftlerin Dr. Sabine Hübgen (WZB) dazu ein, die Ergebnisse der Studie zu diskutieren: Inwiefern stellte die Krise bereits erkämpfte Gleichstellungserfolge auf die Probe und welche Lehren und Chancen müssen aus diesen Entwicklungen gezogen werden?

Dr. Christine Kurmeyer vom Vorstand des Landesfrauenrats begrüßte die Anwesenden sehr herzlich und führte mit einer Feststellung in das Thema des Abends ein: Die Pandemie und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen würden seit Beginn der Lage mit großem Interesse beforscht. Dabei bliebe jedoch die Perspektive der Frauen oft unterbelichtet. Um dieses Defizit zu beheben, habe sich eine Berliner Überparteiliche Fraueninitiative (ÜPFI) bereits schon früh dafür eingesetzt, dass die Situation explizit der Berliner Frauen ebenfalls erhoben wird. Aus diesem Anstoß ergab sich eine Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum Berlin, welches unter der Leitung von Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger, Ph.D., Prof. Lena Hipp, Ph.D. und Dr. Mareike Bünning die Studie „Auswirkungen von COVID-19 auf die wirtschaftliche und soziale Situation von Frauen in Berlin“ auf den Weg brachte. Es sei wichtig, so Christine Kurmeyer, die Ergebnisse jetzt in eine breite Öffentlichkeit zu tragen.

Ein Weg, diese zu erreichen, sei ein Podcast, der aus Audiomitschnitten der Veranstaltung im Nachgang entstehen werde. Für die Produktion des Podcasts konnte die Journalistin Andrea Protscher und die Unterstützung des Landesbüros der Friedrich-Ebert- Stiftung gewonnen werden, dessen Leiter Felix Eikenberg in einem Grußwort die Relevanz der Studie betonte. Man könne, so Felix Eikenberg, nicht zur Tagesordnung übergehen, denn die Corona-Krise habe nicht nur bereits bestehende Benachteiligungen erhalten, sondern auch vertieft. Christine Kurmeyer stellte die Referentin Dr. Sabine Hübgen vor.

Als eine der Autor*innen der Studie präsentierte sie die Kernthesen der umfangreichen Untersuchung. Zunächst sei die Ausgangslage zu beachten: Bereits vor der Pandemie seien große Geschlechterungleichheiten am Arbeitsmarkt, ein ausgeprägtes Gender Care Gap und häusliche Gewalt die alltäglichen Benachteiligungsfaktoren gewesen. Die Untersuchung setze hier an und frage nach den Auswirkungen der Pandemie auf diese Aspekte und auch, welche Frauen besonders stark davon betroffen seien. Das Studiendesign beinhalte drei Teilstudien: Eine quantitative Umfrage im Erhebungszeitpunkten zwischen März 2020 und April 2021, die Auswertung administrativer Daten (z.B. Zahlen von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Selbständigkeit) und 33 qualitative Expert*innen-Interviews aus besonders betroffenen Branchen (z.B Gastgewerbe, Gesundheitswesen, Handel) und besonders betroffenen Gruppen (z.B. Alleinerziehende, Migrant*innen, Selbständige).

 

Mit diesem Studien-Design, so Sabine Hübgen, könnten zwar keine repräsentativen Ergebnisse erzielt werden, wohl aber Tendenzen und Zusammenhänge gut aufgezeigt und belegt werden. Die Studie zeige, dass Frauen aufgrund der Pandemie eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten, ihre Erwerbstätigkeit zu verändern: Mütter reduzierten, Frauen in systemrelevanten Berufen erhöhten ihre Arbeitszeiten. Frauen und Männer seien zwar ähnlich häufig von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen gewesen, die finanziellen Auswirkungen seien jedoch für Frauen ausgeprägter. Das Konzept des Home- Office zeige sich als zweischneidiges Schwert: Zwar gebe es kaum Geschlechterunterschiede bei der Inanspruchnahme von Home-Office, jedoch zeige die Studie auch, dass Home-Office durch die ungleiche Verteilung von Fürsorgearbeit kein sinnvolles Instrument der Vereinbarkeit von Care-Verantwortung und Erwerbstätigkeit sei.

Die Studie bestätige, so Sabine Hübgen, die enormen physischen und/oder physischen Belastungen von Frauen in systemrelevanten Berufen. In nicht systemrelevanten Branchen lösten hohe Einkommensverluste aufgrund von Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosigkeit vermehrt (existenzielle) Ängste und Sorgen aus. Gerade bei den geringfügig Beschäftigten, d.h. Berufen mit geringer sozialer Absicherung, seien überproportional Frauen betroffen. Speziell für Berlin seien die im Vergleich zum Bundesdurchschnitt hohen Selbständigen-Zahlen nennenswert. Hier konnte gezeigt werden, so Sabine Hübgen, dass die Corona-Hilfen bei weiblichen Selbständigen wesentlich schlechter ankämen, da diese häufiger durchs Hilferaster gefallen seien.  Eine Beteiligung von Frauen bzw. einer frauenpolitischen Perspektive bei der Entwicklung von Hilfspaketen sei daher von großer Wichtigkeit. Ein Problem an dieser Entwicklung sei, dass die Erfahrung der Pandemie zukünftig gerade Frauen abschrecken könnte, in die Selbständigkeit zu gehen. Ebenso könne eine Ausweitung des Home-Office zu einer geringeren Sichtbarkeit von Frauen am Arbeitsplatz führen.

Die Studie zeige zudem, so Sabine Hübgen, bei Frauen im Vergleich zu Männern einen stärkeren Rückgang in der Zufriedenheit mit ihrem Arbeits- und Familienleben sowie mit ihrem Leben insgesamt. Das liege unter anderem darin begründet, dass nach wie vor Frauen den weitaus größeren Anteil der unbezahlten Fürsorgearbeit übernähmen, weniger Anerkennung dafür bekämen und auch häusliche Gewalt in der Pandemie gestiegen sei.

Welche Konsequenzen müssen aus der Erfahrung der Pandemie gewonnen werden? Sabine Hübgen stellte die Einschätzungen der Expert*innen vor: Demnach müsse die Arbeitsfähigkeit von Ämtern und Behörden gewährleistet werden. Die Kitas und Schulen offenzuhalten sei außerdem zentrales Element, um die Verschärfung von Benachteiligung von Frauen zu verhindern. Gerade sozial benachteiligte Familien sollten mehr Unterstützung bekommen. Die intersektionale Perspektive sei hier besonders wichtig, denn Mehrfachbenachteiligung werde durch die Pandemie ebenfalls verschärft.
Unabhängig von der Pandemie müssten die bereits vor der Krise bestehenden Benachteiligungen ausgeräumt werden. Als Ansätze hierfür nannten, so Sabine Hübgens, die Expert*innen: Den Ausbau der Kinderbetreuung, die finanzielle und gesellschaftliche Aufwertung von Care-Arbeit, die Abschaffung des Ehegattensplittings, eine verbesserte soziale Absicherung von (Solo-)Selbständigen, mehr Ressourcen für Gesundheits- und Sozialwesen und die Veränderung von „männlichen“ Arbeitskulturen (Vollzeitnorm).

Nach der aufschlussreichen Präsentation eröffnete Christine Kurmeyer die Diskussionsrunde. Die rund 40 Teilnehmer*innen debattierten über mögliche Stellschrauben zu nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation von Frauen, benannten patriarchale Strukturen als Kernproblem und thematisierten die Ressourcenfrage. Wichtige Projekte, wie die zur Prävention häuslicher Gewalt, müssten finanziell abgesichert werden. Dazu reiche keine Verschiebung von

Geldern innerhalb eines Haushalts, sondern es brauche insgesamt mehr Geld für den sozialen Sektor. Außerdem müssten Tarif- und Arbeitskämpfe gestärkt werden. Gerade in frauendominierten Berufen sei der (gewerkschaftliche) Organisationsgrad gering. Die ambivalente Kombination aus begrenzten Projektmitteln und höheren Personalkosten durch faire Belohnung tue ihr Übriges.

Nach einer leidenschaftlich geführten Diskussion beendete Christine Kurmeyer die Veranstaltung mit dem Hinweis auf den 20. Juni 2022: Der Landesfrauenrat lädt ein zum Gespräch mit Ulrike Gote – Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung.

Die Studie des Wissenschaftszentrum Berlin finden Sie zum Download hier.

 

Ein Bericht von Elena Gußmann.