Bericht
Perspektiven der Pflege − zwischen Systemrelevanz und Dauernotstand

Posted by on Apr 13, 2022 in Allgemein

Wie steht es um die Pflege in Deutschland? Wie kann für Pflege nicht nur geklatscht, sondern nachhaltig bessere Bedingungen geschaffen werden? Wie hängen Frauenbewegung und Pflegebewegung zusammen und was können sie voneinander lernen? Zur Bearbeitung dieser brennenden Fragen lud der Landesfrauenrat ein zur Diskussion mit der Vorsitzenden des Deutschen Pflegerats Christine Vogler.

04. April 2022 | 18:00-20:00 | Online-Webinar

Zur April-Veranstaltung des Landesfrauenrats kam eine relativ kleine Runde von Teilnehmenden zusammen, die allerdings von einer hohen fachlichen Expertise gekennzeichnet war.  Dr. Christine Kurmeyer vom Vorstand des Landesfrauenrats begrüßte die Anwesenden sehr herzlich und führte in das Thema des Abends ein mit dem Hinweis, dass eine breite gesellschaftliche Debatte über die Leistung von ‚Care-Arbeit‘ angestoßen werden müsse. Anschließend stellte sie die Referentin des Abends vor: Christine Vogler ist Präsidentin des Deutschen Pflegerats und Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe, außerdem Trägerin des Berliner Frauenpreises 2018 für ihr Engagement für eine anspruchsvolle und attraktive Pflegeausbildung.

Christine Vogler startete ihren Vortrag mit einem historischen Verweis auf „die deutsche Florence Nightingale“ Agnes Karll (1868-1927). Diese habe schon damals den grundlegenden systematischen Zusammenhang von Frauenrolle und Rolle der Pflegenden in der Gesellschaft erkannt. Seitdem, so Christine Vogler, habe sich leider in der Grundstruktur wenig verändert. Noch immer habe die Pflege den niedrigsten Organisationsgrad und Bildung wie Aufstiegschancen in Pflegeberufen würden strukturell verbaut.

Die Pflege, so Christine Vogler, sei aus feministischer Perspektive ein Abziehbild, wie es um Frauen in der Gesellschaft stehe. Die Frauenbewegung und die Pflegebewegung stünden den gleichen Herausforderungen gegenüber: eine ungleiche, niedrige Vergütungssituation, geringe Anerkennung für die Arbeitsleistung, eine fehlende Mitsprache auf struktureller Ebene, Bildung werde strukturell vorenthalten und Handlungsautonomie beschränkt.

Christine Vogler führte in einer verdichteten Präsentation die Situation der Pflege in Deutschland vor Augen. Mit fast 800.000 Pflegefachpersonen gehe es hier um eine riesige Berufsgruppe, die aber eigentlich noch größer sein müsste: In den Krankenhäuser fehlten 100.000 Pflegende, in der Langzeitpflege gar 120.000. Diese ohnehin schon hochproblematischen Zahlen würden sich zum Schlechteren hin verändern. Durch den Renteneintritt der Babyboomer-Generation und den demografischen Wandel sei eine immer größere Lücke zu erwarten. In der Folge bedeute dies, dass mangels Alternative immer mehr Pflege zu Hause stattfinden müsse – ausgeführt von Angehörigen, meistens Frauen. An diesem Punkt fehle die Forschung, es brauche Zahlen, die den volkswirtschaftlichen Schaden dieser Dynamik aufzeige. Gut ausgebildete Frauen seien dann, so Christine Vogler, durch eine moralische bzw. pragmatische Verpflichtung in der häuslichen Pflege für den Arbeitsmarkt nicht mehr verfügbar. Was diese Entwicklung für Menschen ohne Angehörige bedeute, sei nur zu befürchten.

Christine Vogler machte deutlich, dass vor allem auf struktureller Ebene Handlungsbedarf besteht. Während andere medizinische Felder durch Verordnungen und Gesetze z.B. als Kammern oder Institutionen strukturell verankert seien, bleibe die Pflege oft in der Position einer Bittstellerin mit einer Interessenvertretung, die hauptsächlich ehrenamtlich laufe und oft kein Stimmrecht besitze. Die Kompetenz und der Wille gehört zu werden sei da, jedoch zeige sich die derzeitige Struktur mit „gläserner Decke“. Auch hier gebe es Parallelen zur Gleichstellungspolitik. Ab einer gewissen Ebene, so Christine Vogler, werde Mitsprache vorenthalten. Hier müsse die Politik Rahmenbedingungen schaffen – z.B. die gesetzliche Etablierung von Geschäftsstellen in Bund und Ländern – um die Mitsprache von Pflege und damit die Versorgungssicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten.

Weitere Stellschrauben zur Verbesserung der Pflege seien eine adäquate Vergütung, die dem Belastungs- und Verantwortungsprofil der Berufe gerecht wird und eine bessere Personalausstattung in der Pflege. Letztere ließe sich durch ein attraktiveres und flexibleres Berufsbild erreichen, was mit den Bedingungen der Ausbildung und der Handlungsautonomie in der Berufsausübung zusammenhängt. Hier müssten, so Christine Vogler, patriarchale Strukturen aufgebrochen werden, etwa mit einer Heilkundeübertragung auf die Pflege und im therapeutischen Bereich und mit der Novellierung von Verordnungen, etwa zur Weiterbildungsstruktur. Die 2003 eingeführte Trennung von Klinikpflege und Langzeitpflege sei kontraproduktiv und schaffe auch ökonomische Ungleichheit. Christine Vogler schloss mit dem wichtigen Punkt, die Pflege dürfe nicht als lästiger Kostenfaktor behandelt werden, sondern als Qualitätsindikator für Versorgungssicherheit. Höhere Ausgaben in der Pflege seien keine Zusatzkosten, sondern eine adäquate Entlohnung dessen, was bereits geleistet wird. Es brauche einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, der höhere Ausgaben für eine qualitative und Bedarfe abdeckende Pflege fordert. Die Bundesrepublik sei weit abgeschlagen im europäischen Vergleich, was die Ausgaben für das Gesundheitssystem anbelangt.

In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem die (Un-)Möglichkeit des Streiks in der Pflege diskutiert. Können Pflegende die Arbeit niederlegen, um Druck im Arbeitskampf aufzubauen? Dies gehe kaum oder immer nur teilweise und gerade deswegen sei es so wichtig, dass die Politik von sich aus initiativ wird und die Situation in der Pflege verbessert und nicht darauf wartet, dass die Pflegenden durch einen Streik möglicherweise Abstriche in der Qualität der Pflege in Kauf nehmen müssen. In der aktuellen Lage erscheint es so, als würde dieses Dilemma bewusst ausgenutzt. Thematisiert wurden auch die Aspekte Leiharbeit in der Pflege, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, Armut als Überlebensrisiko und die Mehrfachbelastung pflegender migrantischer Angehöriger, die oftmals schlechteren oder keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben.

Wo sind Handlungsspielräume? Nach der ernüchternden Diagnose über die Situation der Pflege in Deutschland blieb die Frage, wo und wie agiert werden kann. Christine Vogler verdeutlichte, dass die Bundesrepublik im europäischen Vergleich eher schlecht dastehe und europäische Regelungen oft behindere oder schleppend umsetze. Hier kann auf europäischer Ebene Druck gemacht werden. Als weiterer Punkt wurde die Verstärkung des gesellschaftlichen Diskurs genannt. Es müsse allen, insbesondere aber jungen Frauen, klar gemacht werden, dass sie es sind, die später ihre Angehörigen werden pflegen müssen. Und es müsse der älteren Generation klar gemacht werden, dass später niemand da sein wird, der sie pflegt. Es gehe um das Schaffen von Bewusstsein. Ein weiterer konkreter Ansatz sei, so die Runde, nicht nur ethische, sondern vor allem volkswirtschaftliche Argumente stark zu machen, denn das sei leider die Sprache, die an den entscheidenden Stellen des Gesundheitssystems gesprochen und verstanden würde. Zuletzt, so Christine Vogler zusammenfassend, solle die Verkettung von Frauenbewegung und Pflegebewegung besser genutzt werden, man könne voneinander profitieren! Unter der Überschrift Feminismus und Pflege ließe sich viel vertiefen und ein wahrer Gewinn für die Gesellschaft aufzeigen.

Christine Kurmeyer bedankte sich bei der Runde für die angeregte Diskussion mit dem Versprechen, dass sich aus dieser Diskussion heraus eine gemeinsame Veranstaltung von Deutschem Pflegerat und Landesfrauenrat entwickeln werde. Zuletzt sprach Christine Kurmeyer eine herzliche Einladung für die nächste Veranstaltung aus. Diese findet am Montag, 16. Mai 2022 statt: Vorgestellt wird die WZB-Studie „Die Auswirkungen von COVID-19 auf die wirtschaftliche und soziale Situation von Frauen in Berlin“, als Referentin konnten wir Sabine Hübgen gewinnen.

Die Präsentation von Frau Vogler ist hier abrufbar.

Ein Bericht von Elena Gußmann.